Der isländische Künstler Hallgrímur Helgason zu Gast in Kopenhagen bei Nordatlantens Brygge
Nordatlantens Brygge, das Nord-Atlantik-Haus, ist ein Ort der Kunst und Kultur Nordeuropas mit Fokus auf die Färöer, Grönland und Island. Das im Herzen Kopenhagens gelegene Kulturhaus schaffte es 2021 auf der Campaya-Liste unter die besten sechs Sehenswürdigkeiten der Stadt. Als selbstständige kulturvermittelnde Institution können Besucher:innen hier Ausstellungen, Lesungen, Konzerte und Filmevents erleben. Im Haus findet sich außerdem ein Café und eine Boutique mit Produkten aus den drei vertretenen Regionen.
Hallgrímur Helgason – (Selbst-)Portraits
Aktuell zeigt das Nord-Atlantik-Haus eine Gemäldeausstellung des isländischen Künstlers und Autors Hallgrímur Helgason. Unter dem Titel Gruppenportrait des Selbst (Group Portrait of the Self) sind auf zwei Etagen Werke aus den Jahren 2021–2023 zusehen. Im Erdgeschoss befinden sich die titelgebenden Gruppenbildnisse, während im ersten Stock eine Reihe von Portraits imaginierter Personen aus dem Jahr 2023 zusehen ist, die der Künstler als 4Faced betitelt hat.
In Deutschland ist Helgason besonders bekannt für Romane wie Reykjavik 101 (1996) und Seekrank in München (2015). Beide sind beim Klett-Cotta Verlag in Stuttgart erschienen. Im Begleitheft der Ausstellung schreibt der isländische Botschafter Árni Þór Sigurðsson über den Künstler:
Hallgrímur hat immer gemalt, er durchlief eine professionelle Ausbildung als Visual Artist noch bevor er überhaupt seinen ersten Roman veröffentlichte. Seine Gemälde und Zeichnungen sind häufig gefüllt mit fantasievollen und komischen Figuren, die seinen persönlichen Stil und einen spielerischen Zugang zur Kunst zeigen. (Übersetzung aus dem Englischen: Theresa Kohlbeck Jakobsen)
Die großformatigen Acrylgemälde basieren auf einer Serie von Zeichnungen, die Helgason 2020 anfertigte. Das verbindende Element: Sie alle enthalten eng beieinanderstehende Gruppen fantastisch-karikativer Figuren. Den Künstler erinnerten die Zeichnungen an die typischen Band-Fotografien von Rockbands. All diese Figuren sind der Fantasie und Vorstellungskraft Helgasons entsprungen.
Über seine Erkenntnisse während des Arbeitsprozesses und die verschiedenen Figuren schreibt Helgason im Begleittext der Ausstellung Folgendes:
Langsam wurde mir klar, dass sie [die Figuren] unterschiedliche Aspekte von mir selbst, Ausdrücke meiner unterschiedlichen Seiten, waren. Jeder Charakter repräsentierte ein Element meiner Seele; dies war meine innere Rockband, sozusagen. Ich entdeckte, dass diese Zeichnungen alle Selbstportraits waren. (Übersetzung aus dem Englischen: Theresa Kohlbeck Jakobsen)
Wie die Detailaufnahmen beispielhaft zeigen, bestechen Helgasons Gemälde durch ihren Farb- und Detailreichtum sowie die charakterliche Tiefe der abgebildeten Figuren. Als Betrachter:innen folgen wir einer ausufernd zersplitterten Erzählung, die sich um die Künstlerseele dreht. Jedes Bild ist ein Sammelband, der Kurzgeschichten und Textfragmente unterschiedlicher Erzählstränge zu einem kohärenten Ganzen vereint. Haben Beobachter:innen sich jedoch einen Überblick über das eine Gemälde verschafft und gehen weiter zum Nächsten zeigt sich, dass dieses, neue Gemälde das Erste um viele weitere Erzählebenen erweitert. So lässt es sich während des Ausstellungsbesuches im Kreis von Bild zu Bild gehen, denn jeder Blick entdeckt etwas Neues.
Das Figurativ-Fantastische der Ausstellungswerke findet sich in Anklängen bereits in Helgasons 2019er Show Frauen hungrig, Männer Wütend(Two Raven Arthouse, Reykjavík). Im Vergleich zu diesen Gemälden fällt auf den ersten Blick auf, dass die Farben nun lebendiger und die Linien klarer sind. Der Wechsel begründet sich in den unterschiedlichen Schwerpunkten der Schauen. In beiden Fällen ist die Thematik tief persönlich, doch während sich Helgason 2019 an der patriarchalen Gesellschaft ab- und seinen Erfahrungen als Opfer sexueller Gewalt verarbeitet, zeigt Gruppenportrait des Selbst einen Künstler, der seine facettenreiche Biografie reflektiert und angenommen hat. Für Helgason öffneten sich durch den neuen Arbeitsansatz dieser Werke als Selbstbildnisse unendliche Möglichkeiten, wie er selbst in der Begleitbroschüre schreibt.
Im Obergeschoss der Ausstellung präsentiert Helgason eine Portraitserie, die die Grenzen zwischen Gemäldekunst und Zeichnung verschwimmen lässt. Mit Acrylmarkern auf Papier gezeichnet, erscheinen die viergesichtigen Nahaufnahmen als krachig-postmoderne Hommage an klassische Portraitmalerei. Zentral ist die transportierte Gesellschaftskritik: Das Selbst (diesmal ein anderes, nicht das des Künstlers) ist in vier Teile zersplittert – Ost und West, Nord und Süd. Jedes der acht Augen hat seine eigene Aufgabe. Eines sieht nach der Familie, eines liest E-Mails, ein anderes Messenger, eines checkt Facebook, wieder eines Instagram, ein weiteres X und das letzte sucht nach Gott.
Neben den Werken findet sich an der Wand folgendes Zitat, das Helgasons Gedankengang zusammenfasst: 4faced – For today’s world you need eight eyes. (dt. 4Gesichtig – Für die heutige Welt brauchst du acht Augen.)
Die Ausstellung Gruppenportrait des Selbst (Group Portrait of the Self) ist noch bis zum 26. Mai 2024 im Nord-Atlantik-Haus, Nordatlantens Brygge, in der Strandgade 91, Christianshavn, 1401 Kopenhagen, zu sehen.
Alle Fotografien habe ich während meines Besuchs am 16.02.2024 aufgenommen.
Weitere Informationen zur Ausstellung: https://www.nordatlantens.dk/da/udstillinger/2024/hallgrímur-helgason-gruppeportraet-af-selvet/
Die Website des Künstlers: https://hallgrimurhelgason.com
Autorenprofil bei Klett-Cotta: https://www.klett-cotta.de/personen/hallgrimur-helgason-p-854
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