Dänemark Entdeckungen

Färöische Kunst in Kopenhagen: Sigrun Gunnarsdóttir – Flügelspanne

Das Nord-Atlantik-Haus, Nordatlantens Brygge, ist ein besonderer Ort Kopenhagens. Die nordatlantischen Inseln Island, Färöer und Grönland finden dort einen repräsentativen Raum für Ausstellungen, Konzerte und Lesungen. Mehrmals im Jahr finden hier Kunstausstellungen statt, die einen Bezug zu den drei Gebieten haben. Auf die Ausstellung des isländischen Künstlers Hallgrímur Helgason folgt nun die der färöischen Künstlerin Sigrun Gunnarsdóttir.

Aufsteller der Ausstellung Nordatlantens Brygge.

Die Gemäldeausstellung Flügelspanne (Wingspan) füllt die beiden Ausstellungsräume im Erdgeschoss und im ersten Stock des Nord-Atlantik-Hauses. Die Bilder werden durch ein Screening des Dokumentarfilms Heartist von Marianne Mørkøre und Beinta á Torkilsheyggi aus dem Jahr 2023 ergänzt. Der einstündige Film porträtiert und begleitet die Künstlerin in ihrer färöischen Heimat und bei einem Aufenthalt im grönländischen Nuuk. Beim DOC LA (Los Angeles Documentary Film Festival) als Best International Documentary ausgezeichnet, eroberte Heartist die Filmfestivals letztes Jahr im Sturm. In Deutschland war der Film bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck zu sehen.

Filmplakat, Originalportrait und Figuren – Sigrun Gunnarsdóttir, Grafik – Kirstin Helgadóttir, Konzept – Katy Beveridge.

Sigrun Gunnarsdóttir zählt zu den wichtigsten und beliebtesten zeitgenössischen Künstlerinnen der Färöer. Ihr Stil überzeugt durch farbenfrohe Einfachheit, die Hand in Hand mit einem tiefgreifenden surrealen Symbolismus geht. Der Repräsentant der Färöer, Jóannes V. Hansen, schreibt im Vorwort des Ausstellungskataloges:

Gunnarsdóttir ist im Herzen eine Geschichtenerzählerin. Ihre Arbeiten drehen sich um Heim, um das Sehnen, um die Gegenwart, um die Suche nach dem Schlüssel zu verschlossenen Räumen, um den Glauben als unsere Basis, um Trauer und Fürsorge. In ihrer Kunst ist die Perspektive häufig die des Kindes. Dabei durchdringt ein Gefühl der Zuwendung zu jenen, die neu in die Welt getreten sind, Gunnarsdóttirs Arbeit.

Den som rører vuggen styrer verden (The Hand that Moves the Cradle Rules the World), Sigrun Gunnarsdóttir. Privateigentum.

Es finden sich viele wiederkehrende Motive in Sigrun Gunnarsdóttirs Kunstwerken. Das Prominenteste darunter ist der rot-orange Spatz, der in vielen der ausgestellten Bilder auftritt und auch schon in früheren Werken eine Rolle spielte. In der Dokumentation Heartist wird gezeigt, wie Gunnarsdóttir eine 285x295x180cm große Pappmaché-Skulptur ihres beliebten Spatzen für eine Ausstellung in der Listasavn, Nationalgalerie der Färöer, anfertigte. Die beeindruckende Skulptur wurde mit der Fähre Norrøna von Tórshavn nach Kopenhagen gebracht und ist ein zentraler Teil der Ausstellung.

Spurv (Sparrow), Pappmaché, Sigrun Gunnarsdóttir.

Wie der Spatz wandern auch andere Motive wie Lilien, Schlüssel oder Engel durch Sigrun Gunnarsdóttirs Kunstwerke und liefern dem Betrachtenden vertraute Anhaltspunkte. Gleichzeitig entsteht dadurch der Eindruck, dass die Gemälde auf gewisse Art und Weise miteinander in Verbindung stehen. Gunnarsdóttir spielt dabei auch mit den Proportionen der dargestellten Elemente eines Bildes. Manchmal findet sich bei näherem Hinsehen ein kleiner, versteckter Spatz, ein Boot oder ein Haus in der Ferne.

I bedstefars båd (In Grandfather’s Boat), Sigrun Gunnarsdóttir.

Eine Detailaufnahme von I bedstefars båd (In Grandfather’s Boat) zeigt in der rechten oberen Ecke sowohl eine weibliche Gestalt mit Fernglas als auch eine Insel mit einem einzelnen weißen Haus, gesäumt von zwei Bäumen. Möglicherweise die Großmutter, die zum Großvater und den Enkeln hinaus aufs Meer schaut?

Detailaufnahme aus I bedstefars båd (In Grandfather’s Boat), Sigrun Gunnarsdóttir.

Die Spatzenvögel, die in so vielen von Gunnarsdóttir’s Gemälden auftauchen, gehen auf folgendes Bibelzitat zurück: „Verkauft man nicht zwei Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters“ (Matthäus 10:29). Im Titelgemälde der Ausstellung Vingefang hos bedstemor og bedstefar (Wingspan at Grandmother and Grandfather’s) findet sich gleich eine doppelte Referenz auf den Spatzen. Er ziert nicht nur die Küchenwand rechts neben dem Fenster, sondern ist auch in der Verkleidung des Großvaters wiederzufinden. Auf der Anrichte neben der Großmutter liegt eine aufgeschlagene Bibel. Der Übergang zwischen draußen und drinnen wird durch kleine Wolken verzerrt, die über den Fensterrahmen reichen. Solveig Hanusardóttir, die Direktorin der färöischen Nationalgalerie, interpretiert die ausgespannten Flügel des Großvaters im Ausstellungskatalog als eine Geste des Schutzes und der liebevollen Umarmung.

Vingefang hos bedstemor og bedstefar (Wingspan at Grandmother and Grandfather’s), Sigrun Gunnarsdóttir. Nordatlantens Brygge. © Beinta á Torkilsheyggj.

Im oben genannten und vielen weiteren Werken von Sigrun Gunnarsdóttir finden sich weibliche Figuren höheren Alters. Diese Frauen sind laut Gunnarsdóttir sowohl von ihrer Großmutter als auch ihrer eigenen Mutter inspiriert. Wie im Gemälde Alt af nåde (By Grace Alone) sind sie oft sitzend abgebildet, bei der Handarbeit oder beim Blick aus dem Fenster. Aus der persönlichen Inspiration der Künstlerin entsteht ein universell menschliches Bild von Mütterlichkeit.

Alt af nåde (By Grace Alone), Sigrun Gunnarsdóttir.

Neben Gemälden sind auch Glasarbeiten Teil der Ausstellung. Die Serie besteht aus vier 80×60 cm großen Scheiben, die an Kirchenfenster erinnern und christliche Motive wie die Mutter Maria, den guten Hirten oder Ictus enthalten. Die Werke sind in einem gelb-orange gehalten und im oberen Ausstellungsraum an den Fenstern platziert, so dass das natürliche Licht durch sie hindurch scheint.

Iktus (Ichthus), Glas, Sigrun Gunnarsdóttir.

Die Künstlerin beschreibt ihre Arbeit mit folgendem Satz: „Kunst ist das Herz, das ich freilege und euch gebe.“ Gunnarsdóttirs Gemälde sind ein Geschenk für die Betrachtenden. Sie laden zum Verweilen ein, zum Näherhinsehen, aber auch zum Zurücktreten und Überblicken. Einfachheit und Komplexität tanzen in den Bildern miteinander und ziehen einen in ihren Bann. Wiederkehrende Motive und Farbkompositionen konstruieren eine Geschichte, die über das Ende der einen Leinwand zur nächsten reicht. Die färöische Landschaft wie auch das Meer werden auf einzigartige Weise dargestellt und wecken Erinnerungen an salzige Luft und duftende Mooslandschaften.

Detailaufnahme Hjertevandet (Water of the Heart), Sigrun Gunnarsdóttir. Privateigentum.

Die Ausstellung Flügelspanne (Wingspan) ist noch bis 22. September 2024 im Nord-Atlantik-Haus, Nordatlantens Brygge, in der Strandgade 91, Christianshavn, 1401 Kopenhagen, zu sehen.

Zitat Sigrun Gunnarsdóttir.

Alle Fotografien, wenn nicht anders gekennzeichnet, habe ich während meines Besuchs am 16.06.2024 aufgenommen.

Weitere Informationen zur Ausstellung: https://www.nordatlantens.dk/da/udstillinger/2024/vingefang-sigrun-gunnarsdóttir/

Die Website der Künstlerin: https://sigrungunnarsdottir.com

Über den Autor

Theresa Kohlbeck Jakobsen

Theresa Kohlbeck Jakobsen ist zertifizierte Fremdenführerin für die Färöer und schreibt aktuell ihre Doktorarbeit zu färöischer Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Theresas Leben und Arbeiten findet im Städtedreieck Berlin - Kopenhagen - Tórshavn statt. Im Rahmen des absolvierten Skandinavistik-Studiums bereiste Theresa fast alle Ecken Skandinaviens und des Baltikums und verbrachte u. a. viel Zeit in Helsinki. Am liebsten schreibt Theresa über Kunst und Literatur der vielen kleinen und großen nordischen Inseln. Theresas Artikel erscheinen regelmäßig in der Zeitschrift Tjaldur des Deutsch-Färöischen- Freundeskreises e. V.

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